Szenen, die unter die Haut gehen

Musikschule und Company bringen ungeheuer dichte Inszenierung von »Anatevka« auf die Bärenbühne

»Anatevka« im Bärensaal: starke Gefühle, Heiterkeit, Freude und Ergriffenheit, Szenen die unter die Haut gehen. Fotos: Ziechaus

Von Antonie Anton

Schramberg. »Ohne Tradition wäre unser Leben genauso un­sicher wie das des Fiedlers auf dem Dach.« Klaus Andreae, Hauptdarsteller Tevje in der neusten Musicalproduktion zum 50. Jubiläum der Musikschule Schramberg, brachte die schwierige Situation der chassidischen Juden im zaris­tischen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch deutlicher wie das Original auf den Punkt.
Was die Schramberger »Anatevka«-Produktion aus­zeichnet ist exzellentes Zu­sammenspiel zwischen Chor (Heinrich Hoffmann, Regie, Choreinstudierung und Inspi­zienz) und Orchester (Lei­tung Musikschuldirektor Hans Schmalz), gelungenes Zusam­menwirken der Musikschule mit der Chorgemeinschaft »Frohsinn« (Confetti & More und Jugendchor) sowie ein wohlpräpariertes Ensemble der Tanzschule Dierstein. Die präzise Wiedergabe jüdischer Lebenswelt, die ausgewogene Mischung zwischen Ernst und Humor, Tiefgang und typisch jüdischem Wortwitz, zwi­schen folkloristischer Farbigkeit und einsam-sorgenvoller Introvertiertheit, zwischen ausgelassenen Massenszenen und innigen Charakterdarstel­lungen und das Zusammen­wirken zwischen junger und älterer Generation trugen wir­kungsvoll dazu bei. Und um den Generationenkonflikt ge­nau ging es. Mehr noch als in gewöhnlichen Familien sah man wie in jedem jüdischen »Schtetl« die Tradition als Bollwerk und Schutzwall gegen die Außenwelt, die durch Staat, andere Religio­nen und Kulturen repräsen­tiert wurde.

Diese Gegensätze mussten zwangsläufig zu einem Crash führen: Tevje muss erleben, dass sich seine Töchter, eine nach der anderen, seinem Ein­fluss entziehen, sich an unge­wollte Partner binden, ihr eigenes Glück über die Tradi­tion stellen und selbst bestim­men über ihr Schicksal.

Die familiären Szenen, von Klaus Andreae als Patron, Ca­rola King als ebenbürtige Ehe­frau Golde, Stefanie Glunk, Lena Weisser und Lena Kas­per als heiratsfähige Töchter Zeitel, Hodel und Chava mit Herzblut; schauspielerischer und gesanglicher Brillanz und großem inneren Engagement gespielt, gingen unter die Haut und bewegten die Zu­schauer im Saal des Hotels »Bären« stark.

Hervorragend verkörpert waren auch die drei un­erwünschten Liebhaber: Mot­tel als schüchtern-verliebter armer, aber rechtschaffener Schneider (Fabian Penalver), Perchik, Antizarist und studentischer Verfechter des ech­ten Kommunismus mit Um­sturzideen (Florian King), und Fedja, Russe und ortho­doxer Christ (Peter Kühn). An ihrer von Liebe und Zunei­gung bestimmten Unnachgie­bigkeit muss sich Tevje fast die Zähne ausbeißen, muss er sich doch in der Frage nach dem Glück seiner Töchter mit drei fundamentalen Proble­men auseinandersetzen: Ar­mut, Politik und Religions­treue, wächst aber dadurch in seiner Gefühlswelt und Tole­ranz.

Einmalig waren die Gesprä­che mit Gott, der für Tevje ein Partner ist, mit dem man strei­ten, hadern und vielleicht auch handeln kann. Höhe­punkt war sicherlich das Solo Tevjes »Wenn ich einmal reich wär«, in dem Klaus An­dreae als Vollblutschauspie­ler und -sänger einmal mehr über sich hinauswuchs.

Als besondere Charaktere in der Dorfgemeinschaft rag­ten zudem Lazar Wolf, der reiche einsame Metzger (Mar­kus Fassbinder), Mordcha, der psychologische Wirt (Volker Möller), der immer etwas lä­cherlich auftretende Rabbi (Thomas Brugger) und der ru­hige, immer ernst-distanzierte Wachtmeister (Hubert Big­don) hervor.

Hervorragend präsentierte, sich Karl Pröbstle als russi­scher Sänger. Renate Links und Franziska Glatthaar als nächtlich erscheinende Groß­mutter Zeitel und verstorbene Metzgersgattin Fruma-Sarah sorgten in der Gruselszene für gewaltigen theatralischen Wirbel.

Wie auf den Leib geschrie­ben war Monika Koch die Rol­le der Heiratsvermittlerin Jen­te, die mit allen schauspieleri­schen Mitteln, von beiden Sei­ten kurios und komisch überzeichnet, ihre meist un­bedarften Heiratskandidaten an die Frau bringen wollte.

VOR UND HINTER KULISSEN PERFEKT GEARBEITET

  • Die Dorfgemeinschaft wur­de wirkungsvoll komplettiert durch Sänger, dem Jugend­chors und der Chorgemein­schaft »Frohsinn«.
  • Als »Fiedler auf dem Dach« glänzte Johannes Bauer. Das Orchester mit rund 50 jungen Streichern, Blech- und Holz­bläsern, Gitarrist David-Ben­jamin Rohrer, Mandolinen­lehrer Frank Scheuerle, Akkordeonlehrerin Angelika Didas-Flory sowie Meinrad Löffler (E-Bass), Raphael Löffler und Marius Roming (Percussions) trug zum Gelin­gen der hervorragenden Auf­führung bei.
  • Die Begleitung der Songs passte punktgenau, virtuose Soli wechselten mit, effektvol­lem Tutti, die Zwischenspiele spiegelten jeweils die traurige oder fröhlich-ausgelassene Stimmung wider.
  • Wie gewohnt bei Schram­berger Musicalproduktionen wurde auch vor und hinter den Kulissen gut gearbeitet: Maske und Kostüme: Regina Wöhrle, Andrea Fassbinder, Sabine Dieterle, Ingrid Meyle, Gerlinde Königshof; Tontech­nik: Wolfgang Peter, Licht­technik: Peter Moosmann, Bühnenbild: Edgar Brändle, Koordination: Arnhold Bu­dick.
  • Für die Aufführungen heute, und morgen gibt es noch Kar­ten an der Tageskasse.

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